Perspektivwechsel: Wenn die Interview-Expertin selbst interviewt wird

20. Juni 2023, Ansprechpartner*in Maren Hiltmann, Consulting

Wir haben mit unserer Managing Consultant Maren Hiltmann über das neue Buch „Eignungsdiagnostische Interviews“ gesprochen, das sie zusammen mit Prof. Susanne Schulte herausgegeben hat. Von notwendigen Vorarbeiten zur Durchführung und anschließenden Interviewauswertung, über Digitalisierung hin zum Impression Management – unsere Themen waren bunt.

Wie ist die Idee entstanden, ein Buch zu eignungsdiagnostischen Interviews zu verfassen?

Maren Hiltmann: Seit mehreren Jahren bin ich Mitglied der Arbeitsgruppe „Interview Standards“ im Forum Assessment e.V. Die Mitglieder sind aktiv im Wissensaustausch rund um Fragen zu „Assessment, Learning and Development“. Die Standards des Vereins, die Orientierung für eine hohe Qualität von Assessment Centern, Interviews etc. bieten, sind vielen bekannt. In 2021 haben wir die Interview Standards grundlegend aktualisiert und überarbeitet.

Wir hatten in der Projektgruppe darüber hinaus aber noch viel Futter für Erklärungen zu Hintergründen und Ideen für praktische Tipps. Wir wollten außerdem relevante Bezüge aufzeigen, z. B. zur Digitalisierung. So kam die Idee auf, unser Wissen zugänglich zu machen. Und das haben wir auch geschafft – in über 600 Seiten und in Zusammenarbeit mit vielen Expert*innen aus Praxis, Beratung und Wissenschaft. Ich finde, es ist uns wirklich gelungen, die neuesten Erkenntnisse so konkret zu machen, dass alle Praktizierenden diese gut anwenden können. Für mich ist das Buch wie eine Schatzkiste, in der man einzelne Hebel findet, mit denen man die Qualität von Interviews in der Personalarbeit und deren Einbettung Stück für Stück verbessern kann. Es ist an alles gedacht – sogar an rechtliche Hinweise.

 

Laut Interviewstandards ist der Interviewprozess mehrstufig: Auftragsklärung, Anforderungsanalyse, Interviewkonzept usw. Kann ich nicht einfach so ein Interview führen?

Maren Hiltmann: Wenn ich möglichst treffsichere Personalentscheidungen anstrebe und die Zeit der Beteiligten optimal nutzen will, sollte ich zielgerichteter vorgehen. Ein eignungsdiagnostisches Interview ist kein Selbstzweck, sondern dient der Beantwortung einer Frage „Ist jemand für eine bestimmte Stelle oder einen Karriereweg geeignet?“ Ohne die Klärung, was und in welchem Grad jemand an Wissen, Können und Wollen mitbringt, kann kein zielgerichteter Abgleich erfolgen. Die Aussagekraft steigt nachweislich, wenn Form und Fragen für das Interview auf einer systematischen Anforderungsanalyse basieren. Der Zugewinn an Aussagekraft rechnet sich schnell.

 

Interviews werden heute oft online durchgeführt, früher waren Face-to-Face-Gespräche die Norm. Kann man diese zwei Interviewformate gleichstellen, oder verliert man an Aussagekraft und Qualität bei digital durchgeführten Interviews?

Maren Hiltmann: Das ist eine ganz spannende Frage, in der gerade wissenschaftlich viel passiert. Die kurze Antwort ist nein, man kann sie nicht eins zu eins gleichsetzen. Rein praktisch bedeutet es, bei digitalen Interviews ein paar Anpassungen vorzunehmen, damit es möglichst gut klappt – zum Beispiel einen Technik-Check vorab. Nach bisheriger Erkenntnis ist vor allem wichtig, dass man die Formate nicht mischt, also für eine Stelle entweder alles online oder alles in Präsenz durchführt. In „Eignungsdiagnostische Interviews“ gehen Johannes Basch und Klaus Melchers in ihrem Kapitel „Interviews per Telefon, Videokonferenz oder Videoaufzeichnung – inwiefern macht dies einen Unterschied?“ dazu auf viele weitere Details ein.

 

Es gibt ein eigenes Kapitel zur Protokollierung und Dokumentation. Ist es für die Interviewten in Ordnung, wenn die interviewende Person vor Ort mitschreibt?

Maren Hiltmann: Vermutlich ist das Empfinden dazu individuell sehr verschieden. Wichtiger erscheint mir die Transparenz zu den Gründen. Wir brauchen Notizen für eine seriöse Auswertung, sie dienen auch als Basis für ein Feedback. Das den Interviewten zu erklären erscheint mir sehr wichtig. So haben sie im besten Fall sogar ein gutes Gefühl.

 

Viele Interviewte wollen sich von ihrer besten Seite zeigen und ihre Persönlichkeit faken. Wie kann man dagegenwirken?

Maren Hiltmann: Bis zu einem gewissen Grad sind das ganz normale Prozesse. In unserem Buch unterscheiden die Autoren Benedikt Bill und Klaus Melchers beispielsweise zielgerichtete Lügen von „ehrlichem“ Impression Management, bei dem sich die interviewte Person von der besten Seite zeigt. Vor allem strukturierende Interviewelemente tragen dazu bei, unerwünschte Einflüsse zu reduzieren. Wie die Autoren empfehlen auch wir bei ELIGO den Ansatz des Methoden-Mixes. Dabei werden weitere Quellen wie Testverfahren oder Arbeitsproben mit Interviews kombiniert.

 

In deinem Kapitel „Protokollierung und Auswertung von Interviews – Wie Sie zu einem aussagekräftigen Ergebnis kommen und dieses kommunizieren“ betonst du, wie wichtig es ist, die Beobachtung und Auswertung der Interviews bewusst zu trennen. Wie kann ich das als interviewende Person sicherstellen?

Maren Hiltmann: Wir alle tragen unbewusste Vorurteile und Wahrnehmungsverzerrungen in uns, die wir nie ganz loswerden. Aber wir können lernen, welche Vorurteile das sind und was wir tun können, damit sie möglichst nicht aktiv werden. Vor allem Strukturierungselemente helfen dabei. Eines davon ist ein Interviewleitfaden mit vorab definierten Fragen von guter Qualität. Das erscheint vielen nachvollziehbar. Ein anderes Element, das noch viel zu wenig Anwendung findet, ist die Trennung von Beobachtung und Bewertung bzw. die systematische Auswertung. Zunächst werden nur die Antworten bzw. Beobachtungen aufgeschrieben. Erst, wenn das Interview zu Ende ist, bewerten alle Beobachter*innen einzeln für sich die Antworten anhand vorab definierte Anforderungskriterien. Danach folgt die Integration der Bewertungen – idealerweise über eine vorab festgelegte Regel, und der Austausch findet statt. Beim ersten Mal ist es vielleicht ungewohnt, aber es lässt sich sehr schnell trainieren.

 

Ist das nicht übertrieben?

Es gibt in der Tat ein extremes Maß an Strukturierung und Standardisierung, bei dem die Interviewqualität nicht mehr steigt und Hinweise vorliegen, dass die Akzeptanz des Formats bei den Teilnehmenden leidet. Aber davon sind die meisten Interviewverfahren weit weg. Elemente an Standardisierung und Strukturierung steigern die Aussagekraft. Das belegen Studien sehr eindeutig. Prof. Uwe Peter Kanning (2019) fasste die Erkenntnisse dazu wie folgt zusammen: „Wenn heute in manchen Unternehmen noch diskutiert wird, ob sich die Einführung hochstrukturierter Verfahren lohnt, ist dies ungefähr so, als würden Chirurgen darüber diskutieren, ob sie ihre Instrumente vor einer Operation sterilisieren sollten“. Grundsätzlich kann man es so formulieren: Strukturierung so viel wie möglich, ohne dass sie die Akzeptanz gefährdet. Strukturierung ist keine automatische Absage an eine freundliche, wertschätzende und einladende Atmosphäre.

 

Danke Maren für das spannende Interview und deine Impulse für mehr Qualität in der Interviewpraxis.

Noch mehr Einblicke ins Thema finden Sie im Buch „Eignungsdiagnostische Interviews: Standards der professionellen Interviewführung“.

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